Zur Startseite


"Containertagebuch 51"

Berichte
des Norderstedter Hausarztes
Ernst Soldan über seine Arbeit
mit Geflüchteten und Obdachlosen

   
   
   
1.9.2017  

Horst (Mecklenburg)

Während wir noch versucht haben, über eine verloren gegangene Mobilnummer die mazedonische Familie mit der schwangeren 15jährigen ausfindig zu machen, hat diese, vor einer Woche bereits, entbunden.
Eben kommt sie in Begleitung ihrer Oma mit dem Neugeborenen zurück ins Lager. Zum Glück ist das regionale Jugendamt bereits informiert und hat bei den nunmehr drei minderjährigen Familienmitglieder den Daumen drauf, d. h. die Ausländerbehörde kann sie nicht so einfach abschieben, weil sie „unbegleitete Minderjährige“ sind – Großeltern zählen nicht als Erziehungsberechtige, und das ist in dem Fall von Vorteil.
Derweil ist eine neue Familie mit hochschwangerer Mutter angekommen, plus munterem Kleinkind. Dessen einziges „Personaldokument“ ist dieser zerknautsche Fresszettel, kaum größer als eine Essensmarke – das Bild hier ist größer als der Zettel* – über die Geburt des Kindes in einem namenlos gebliebenem schwedischen Krankenhaus:

   
         
   
   

Kind Nr. 867
(Name der Mutter)
Geboren am 26.6.16 um 21:29
Gewicht: 3760 Länge 50
Kopfumfang 37

   
         
  * Das ist nach dem Layout und dem Satz nicht mehr so sicher. Ich habe keine genauen Maße [Red.]    
         
   

Ich schreib meinen üblichen Bericht und versuche den Lagerarzt zu sprechen, wegen der hochschwangeren Mutter. Der Pförtner erklärt mir, die Familie würde heute noch registriert und in diesem Rahmen auch vom Arzt gesehen. Nachdem sich mein Vertrauen in die medizinische Versorgung im Lager nach den letzten Erlebnissen etwas gebessert hat, nehme ich das so hin und erkläre es dem Paar, das nach Ablehnung des Asylantrags aus Schweden überstürzt geflüchtet ist.

Ansonsten ist heute Tschetschenen-Tag. Eine Frau, die etwa so viel Deutsch spricht, wie ich Russisch, nämlich nicht allzu viel, möchte wissen, was aus ihrem Mann geworden ist, der seit drei Tagen in örtlichen Krankenhaus liegt, und mit dem offenbar seither nicht viel passiert sei. Die Krankenhaussekretärin gibt mir die Nummer des Chefarztes (!), der mir, nachdem ich mich als Kollege vorgestellt habe, Auskunft gibt, und ich kann die Frau beruhigen. Eine meiner leichteren Übungen. Vor allem auch, weil viele medizinische Fachausdrücke in der russischen Umgangsspache verstanden werden: Das Wort „Koloskopie“ zum Beispiel muss ich nicht durch eine womöglich als obszön empfundene Geste umschreiben, während das deutsche „Darmspiegelung“ selbst für manche meiner Landsleute unverständlich bleibt.

Eine junge Mutter befürchtet, dass ihr Kleinkind Schaden nimmt, wegen einiger Impfungen, die es irgendwo in Russland schon bekommen hat, aber eben ohne Impfausweis oder ähnlichem – bei deutschen Ärzten heißt es: Nicht dokumentiert ist nicht geimpft. Sie erklärt mir, in englisch-russischem Gemisch, welche Impfungen das Kind bekommen hat, ich rufe in einer Kinderarztpraxis an, ob eine „Überimpfung“ gegen diese Krankheiten schädlich sei, was verneint wird.

Es geht mir ja nicht darum, die vorhandene und zum Teil wirklich notdürftige Versorgung um jeden Preis zu kritisieren, sondern im Einzelfall auch die Leute zu beruhigen und ihnen eine Prozedur zu erklären, die sie im Einzelfall als gegen sie gerichtet empfinden – was ja nicht stimmen muss. Im Gegensatz zu den möglicherweise überlasteten Lagerärzten hab ich ja Zeit.
Hinderlich ist, dass wir nach wie vor nicht ins Lager dürfen. So wird Misstrauen geschürt, bei Menschen die aufgrund ihrer Traumatisierung mit Recht hochgradig misstrauisch sind – anstatt dass man alles tut, um den Betroffenen einige ihrer Ängste zu nehmen.
Wobei es politische Kräfte gibt, die aus Niedertracht alles tun, um diese Ängste zu schüren.

An dieser Stelle ein Appell an alle Leserinnen und Leser:
Wir (Mediziner/innen, Anwälte, Dolmetscherinnen) arbeiten vor Ort zwar ehrenamtlich, vor allem die Rechtshilfe in den Anwaltskanzleien und vor Gericht aber geht ordentlich ins Geld. Deshalb können wir Spenden dringend gebrauchen, z. B. hier:
Flüchtlingsrat Hamburg e.V.
Postbank Hamburg
IBAN: DE20 2001 0020 0029 3022 00
BIC:  PBNKDEFF
Verwendungszweck: Rechtshilfe für Geflüchtete

   
         

2.9.2017

 

Hamburg, Große Elbstr. 264, Hanseatic Help

Überall stapeln sich die Kisten – ich hab den Eindruck, man braucht mehr Helfer, um das Gespendete zu sortieren, als noch mehr neue Spenden an Kleidern usw. (OK, die auch) – JEDER KANN MITMACHEN !

Mehr auf der „Hansi“-Homepage: https://www.hanseatic-help.org/

Ich selber bin wieder in meiner Männerecke, räume in Kisten ein, packe Abgezähltes wieder von den Kisten in Kartons um, klebe sie zu, versehe sie mit einem Zettel wie z. B. „Männer: Pullover, Jacken ohne Hoodies (Kapuzen) Größe M 30 Stück“ und staple den Karton auf einem Wagen. Nach einer Stunde beginne ich mein Kreuz zu merken, aber das ist aushaltbar.

Immer wieder lange Sucherei an der Krageninnenseite nach einer Größenangabe. Zum Bespiel an einem T-Shirt mit nichtssagendem Aufdruck. Aber das Schild fällt mir auf: Made in Haiti:
   
   

 

   
       
         
       

 

       
    Irgendeine Haitianerin hat dieses Textil genäht, für einen Hungerlohn vermutlich, über Mexiko kam es hierher, und womöglich landet es in der nächsten Hilfesendung nach dem Wirbelsturm „Irma“ wieder in Haiti. So wie der Container vor einem halben Jahr, an dem ich mitgepackt habe. Es wird weder der letzte Wirbelsturm sein, noch der letzte Container.    
   

Bis demnächst!

   
   

 

   
    Der Soldan-Bericht 51 als PDF zum Download: ——>   Klick hier!
   

Zum Inhaltsverzeichnis (Liste) ——>

Zur Eingangsseite ——>

 

klick hier!

klick hier!

   
   
Letzte Änderung:
31/12/17
  Impressum – Haftungsausschluss