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"Containertagebuch 60"

Berichte
des Norderstedter Hausarztes
Ernst Soldan über seine Arbeit
mit Geflüchteten und Obdachlosen

   
   
   
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Freitagabend 16.11.18
Über ein paar Ecken werde ich angefragt, ob ich einen im Hamburger Flughafenknast einsitzenden Mann begutachten könne, ob er "gesund" genug sei für die Abschiebung nach Russland/Tschetschenien. Es liegt bereits das ausführliches Attest einer Psychiaterin vor, die den Patienten gut kennt, wonach er schwer traumatisiert ist und keinesfalls abgeschoben werden darf. Zudem hat er Frau und drei Kleinkinder, von denen er durch die Bundespolizei gewaltsam getrennt wurde.

Samstag 17.11.18, nach 11.00
Es gelingt mir, mit dem Betroffenen zu telefonieren - er möchte, dass wir kommen. Franz von Flüchtlingsrat Hamburg und ich treffen uns in Niendorf am Rand des Rahmoor-Parks, der Eingang zum "Ausreisegewahrsam" ist hinter der Holzbrücke über die Tarpenbek. Dort stoppt uns ein meterhoher Zaun, den Knast sieht man von dort noch gar nicht. Vor zwei Jahren waren die Knast-Container noch vom Park aus sichtbar, auch wenn der Bach dazwischen durchging - jetzt bemüht man sich, dass dieser Blick zuwächst, und verdeckt die noch einsehbare Stelle mit einer großen Tafel, die die Renaturierungsmaßnahmen an dieser Stelle beschreibt. Von dem, was man dahinter nicht mehr sehen soll, kein Wort.
Es gibt an der meterhohen Tür keine Klingel. Nach Handyanruf werden Franz und ich mit 3 Mann abgeholt. Vorbei an einem Sportplatz (für Flughafenangehörige), dann noch ein verschlossenes Tor, danach wird die nach aussen durch grüne Sichtblenden "geschützte" und von NATO-Draht gekrönte Anlage - ein paar Container - sichtbar. Noch 2x aufsperren, dann sind wir drin. Müssen unsere Taschen leeren, werden einzeln abgetastet, Russisch-Wörterbuch darf ich mitnehmen. Rest bleibt draussen (Handy, Geldbeutel etc.). Die Arzt-Atteste darf Franz mitnehmen und R. geben.
Ich hatte mich als Arzt angekündigt. "Wenn er einen Arzt braucht, kommt der von uns. Wenn sie ihn untersuchen wollen oder das Thema auf ärztliche Inhalte kommt, brechen wir den Besuch ab". Ein Arztbesuch von aussen z.B. durch mich dürfte nur auf Anwältinnenantrag und Gerichtsbeschluss erfolgen, erklärt einer der Wachmänner.
Wir werden in einen knapp 10x10m großen Raum geführt, wackeliger Tisch, 4 Stühle und das mal 4. Bekommen Getränke angeboten, Wasser, Kaffee oder Tee. 4 oder 5 Wachleute wachen über jedes gesprochene Wort.
R. kommt herein, ein schmächtiger junger Mann mit dunklem Bart. Er spricht verständlich Deutsch, das Wörterbuch brauche ich nicht. Wir fragen wie es ihm geht. Er vermisst Frau und Kinder, klagt über Kopfschmerzen, Brustschmerzen und Herzrasen. Ich darf ihm nicht mal den Puls messen. Ein Arzt, evtl Psychiater (der von Herz keine Ahnung hat) käme heute noch, wann ist unbekannt. Anwesenheit von Vertrauenspersonen während der Arztuntersuchung sei nicht gestattet. Die vom Krankenhaus verschriebenen Tabletten gegen Herzrasen, was er seit einer Messerstichverletzung öfter hat, bekommt er nicht, die liegen noch in MeckPomm, bzw. wurden bei der Nacht-und-Nebel-Verhaftung "vergessen".
R. vermisst seine Familie - wenn schon Abschiebung nach Russland oder Tschetschenien, dann wenigstens zusammen, mit Frau die kaum Deutsch spricht und 3 Kindern (7j, 5j und 5 Mon.). Aber das ginge nicht, "dauert zu lange". Stattdessen wurde er zu Hause aus dem Bett gerissen und mit einer schwarzen Brille, mit der er nichts sehen konnte, von MeckPomm nach Hamburg gekarrt.
"Warum die Brille ?" "Das müssen Sie Frau Bernd fragen, die hat das angeordnet - wird schon ihre Gründe gehabt haben", sagt ein Wachmann. "Wobei - hier ist er ganz manierlich." Soll wohl heissen, dass man hier auch keine Erklärung für diese unmenschliche Vorgehen hat. In der Stellungnahme des Innenministerium vom MeckPomm heisst es später, es hätte die Gefahr gedroht, dass der Betroffene mit Gegenständen um sich wirft. Mit den Augen ? Haben die Herrschaften zuviel "Perry Rhodan" gelesen und glauben jetzt an Telekinese ?
Abgeschoben werden soll R. von Berlin aus, dort wollen sie ihn Montag früh hinbringen. Die übrige Familie soll noch hier bleiben, weil es für das 5 Monate alte Baby noch keinen Pass gibt. Der Transport nach Hamburg deshalb, weil es angeblich näher dran keine "Ausreisegewahrsams"-Platz gibt. Er hat ein psychiatrisches Gutachten, das wir kennen, und wonach er nicht abgeschoben werden darf, andernfalls schwere gesundheitliche Risiken. Die Ausländerbehörde und das Verwaltungsgericht interessiert das nicht.
Um 12:00 werden wir hinausgebeten, da Mittagessen und Besuchszeit zu Ende. Erst wird R. abgeführt und verschwindet hinter einer Tür, dann dürfen wir raus. Wir lassen ihm 40€ da (ein paar € hat er noch), d.h. die bekommt die Wache und wird sie ihm geben, wenn er abgeholt wird. Was über 50€ ist, konfisziert die Hamburger Ausländerbehörde, zwecks "Deckung der Abschiebekosten". Nachdem die Quittung fertig ist und wir unsere Sachen wieder eingesammelt haben, eskortiert uns das uniformierte Trio wieder durch die drei Zäune.

Sonntag/Montag

Die Verfassungsbeschwerde der Anwältin wird abgeschmettert, das Gefälligkeitsattest des vom Abschiebeknast herbeigerufenen Arztes lautet natürlich "reisefähig" (als wenn es um eine Urlaubsreise ginge !), Montagfrüh karren sie R. von Hamburg nach Berlin (ob wieder mit verbunden Augen, wissen wir nicht), mittags wird er nach Moskau geflogen. Seither ist Funkstille.
Das Innenministerium von Mecklenburg-Vorpommern rechtfertigt dieses unmenschliche Vorgehen in vollem Umfang, ihr Chef Lorenz Caffier ist ja gern mal, als Freizeitbeschäftigung, dabei, siehe hier: https://www.youtube.com/watch?v=kqGouLW6zbo ("Protokoll einer Abschiebung"/NDR, Caffier ist der Mann im Hintergrund mit der blauen Schirmmütze). Der Flüchtlingsrat kontert:
Das Innenministerium (IM) MV rechtfertigte heute die Abschiebung und wies die Kritik des Flüchtlingsrat Hamburg zurück. Eine recht dürftige Erklärung für eine grausame Abschiebung.
In seiner Argumentation verwechselt Herr Caffier zwei Details: Rechtmäßig (zulässig gemäß geltener Rechtslage, Formulierung des IM-MV) und menschenrechtswidrig (unzumutbare Bedingungen während der Abschiebung, Formulierung des Flüchtlingsrats Hamburg). In der Pressemitteilung geht das IM mit keinem Wort darauf ein, ob die durchgeführten "Zwangsmaßnahmen" dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprachen. Ein Folteropfer mit "verbundenen Augen" (blickdichte Brille) mehrere Stunden in einem Auto irgendwo hinzufahren, löst mit recht großer Wahrscheinlichkeit Erinnerungen an Entführungen in (Folter-)Knäste aus. Kaputte Menschen noch kaputter machen - christdemokratische Politik 2018.
Auch zur inhaltlichen Legitimität des amtsärztlichen Gutachtens nimmt das IM keine Stellung: Handelte es sich bei dem Gutachten um ein ebenso qualifizierten Fach-Ärzt*in wie bei der Einschätzung der akuten Siuizidalität? Wie kann eine einmalige Begutachtung ein in einer Therapie entstandenes Attest ersetzen?
Auch die Antwort auf die Frage, wie eine medizinisch begleitete Abschiebung einen Suizid in Tschetschenien verhindern soll, bleibt offen. Ein ähnlicher Fall geschah 2018 bereits in Afghanistan. Ein junger Mann nahm sich das Leben, nachdem er dorthin abgeschoben wurde. Seehofer bedauerte - Konsequenzen so etwas zu verhindern scheinen die CDU/CSU-Hardliner nicht ziehen zu wollen.
Die schon erwähnte Frau Bernd, für diese Menschenrechtsverletzung im Stralsunder Ausländeramt verantwortlich, hat in der Zwischenzeit wohl ein paar böse Anrufe bekommen, jedenfalls versucht sie das Gerücht zu verbreiten, R. sei Salafist. Wovon in der Akte kein Wort steht - und bei den geringsten Verdachtsmomenten sicher drin gestanden hätte. Vielleicht weil R. einen Bart trägt ? Nun, den hab ich auch. Seit 1970.

   
   

… Bis demnächst!

   
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Letzte Änderung:
09/05/19
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